Warum sich politisch äußern?
- Tom Drechsel
- 14. Sept. 2024
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4. Okt.
Warum sich eigentlich politisch äußern? Einerseits sind es doch die Parteien selbst, die am politischen Willensbildungsprozess mitarbeiten sollen (Art 21 Abs. 1 Grundgesetz BRD - ähnlich in Österreich) und ihre politischen Vorstellungen und Konzepte, nicht nur, aber vor allem, in und über die Parlamente der Öffentlichkeit kundtun, andererseits diskutieren und kommentieren die unterschiedlichsten politischen Journale und Formate deren Konzepte. Warum sich also selbst nochmals politisch äußern? Liegt doch darin vielmehr die Gefahr, besonders heute im Zeitalter der sozialen Medien, dass man sich dem Spott der Anderen aussetzt. Der kürzlich verstorbene Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer wusste: „Wer sich einsetzt, setzt sich aus.“ Warum sich dies antun?
Um die Frage beantworten zu können, macht es zunächst Sinn, in aller Kürze, auf einen Aspekt der griechischen Antike und damit auch auf den Ursprung der Demokratie zurückzublicken. In der „Klassischen Zeit“ (ca. 500-300 v. Chr.) wurde zwischen dem Oikos (dem Haushalt) und der Polis unterschieden. Wo der Oikos für den Haushalt und damit das Private stand, der für die Bedürfnisbefriedigung und Lebenserhalten notwendig war, war die Polis das Zentrum der Öffentlichkeit. Auf der Agora (Marktplatz) wurden die politischen Debatten der Bürger geführt. Jeder Bürger war aufgefordert, zu den Debatten zu erscheinen, zu diskutieren und abzustimmen. Bürger, die sich enthielten und sich auf das private zurückzogen, waren die sogenannten „Idioten“ (von griech. idios [ἴδιος]), das Eigene, Eigentümliche, Private - d. h. jene, die sich auf ihren Oikos beschränkten) Der „Idiot“ war also ursprünglich nur derjenige, der sich nicht um die öffentlichen Belange kümmerte. Nun ist die Klassische Zeit über 2000 Jahre vergangen und gerade der Begriff des „Idioten“ hat heute eine andere, besonders negative Bedeutung und kann nicht mehr ohne Weiters auf die heutige Zeit projiziert werden. Dennoch wird gleich darauf zurückzukommen sein.
Um nun zu der Beantwortung der gestellten Frage zu kommen, warum man sich denn heute noch politisch äußern soll, möchte ich die Wähler_Innen in drei Gruppen einteilen (Ich beziehe mich, aber adaptiere hier Stefan Herrmann Analyse zum Rassismus vgl. Demokratischer Streit, eine Phänomenologie des Politischen, Baden-Baden 2023, Seite 130-139.). Zum einen gibt es da die Gruppe, die sich in ihrer Wahl und Entscheidung schon absolut sicher sind. Sie wissen, wen sie wählen. Dies hängt mit ihrer Einstellung und Ideologie (dieser Begriff soll hier nicht negativ verstanden werden) zusammen. In dieser Gruppe muss nicht mehr debattiert werden und es ist klar für oder gegen wen und was sie stimmen (wenn sie denn überhaupt zur Wahl gehen). Die zweite Gruppe sind die Unentschlossenen. Diese Personen können mit Argumenten für die ein oder andere Partei noch gewonnen werden. Hier können Diskussionen noch zu Änderungen in der Einstellung und somit im Abstimmungsverhalten führen und von daher ist es sinnvoll, sich politisch einzubringen und seine Ansichten kundzutun, also sich politisch zu äußern. Gerade im Zeitalter der sozialen Medien sind es hier oft die Influencer, die als Einflüsterer erheblichen Einfluss auf die Wahl haben können. Aber auch jeder einzelne kann sich durch Engagement und Diskussion in dieser Gruppe einbringen und das Wahlverhalten beeinflussen. Die dritte Gruppe ist nun aber für meine Belange die interessanteste. Es ist der Schlag von Wählern, die sich aus der Öffentlichkeit und Debatten zurückgezogen haben. Damit sind nicht primär jene gemeint, die nicht mehr zur Wahl gehen und der Demokratie ihren Rücken zeigen, sondern vielmehr jene, die sich an der Auseinandersetzung nicht mehr beteiligen, weil sie sich in ihrer jeweiligen Situation (Oikos) eingerichtet haben und es ihnen so weit ganz gut geht und zufrieden sind. Daher sehen sie keine Notwendigkeit, durch die Wahl irgendetwas zu verändern. Insofern besteht auch nicht der Drang, sich politisch einzubringen. Allerdings ist dies gefährlich, da sie dadurch erst die Möglichkeit schaffen, dass die Extremen, d. h. die rechten und linken Rändern der Gesellschaft stark werden können. Heute sehen wir es im Aufstieg der extremen Rechten, ob AfD in Deutschland, der RN in Frankreich, Viktor Orban in Ungarn, Geert Wilders in den Niederlanden, Robert Fico in der Slowakei oder auch die FPÖ in Österreich. Durch das Fehlen einer starken Gegenrede entsteht der Schein, dass die Ränder eigentlich gar keine sind, sie vielmehr die Mitte verkörpern und damit die Norm, also das Normale. Dabei können Nazisager niemals zur Grundlage einer demokratischen Auseinandersetzung werden und Parteien mit Naziallüren dürfen nie wieder die Mehrheit repräsentieren. Umgekehrt haben die Extremen durch das Schweigen der dritten Gruppe ein leichteres Spiel, die Unentschlossenen von ihren Ansichten und Standpunkten zu überzeugen. Spätestens seit Freud und der Erfahrung/Wissen über den Nationalsozialismus wissen wir, dass der Mensch ein Herdentier ist, er sich schnell unreflektiert einer Masse anschließt und es sich darin bequem einrichtet. Insofern sind viele Gegenreden immer sinnvoll und der Demokratie dienlich.
Warum sich also politisch äußern? Es geht somit um zweierlei und damit komme ich auf den oben angesprochenen – im klassischen, antiken Sinne – Idioten zurück. Heute mag unter dem Idioten der Dumme verstanden werden, aber hier kann davon keine Rede sein. Der Idiot ist derjenige, der sich auf seinen Oikos, auf sein Privates und Eigenes zurückzieht und mit den öffentlichen Angelegenheiten, obwohl er als Bürger dazu aufgerufen ist, nichts mehr zu tun haben will. Es sind heutzutage jene, die ich in der dritten Gruppe dingfest zu machen versuche. Sie sind still und führen aus Bequemlichkeit oder Scheu keine offenen Debatten mehr. Das vermeintlich Unpolitische ist aber nicht nicht politisch. Man kann nur politisch sein, gerade auch dann, wenn man schweigt. Es öffnet den Extremen Tür und Tor. Daher ist es wichtig, sich mit Wort oder Schrift, d. h. verbal zu äußern a) damit ein Weckruf in diese Gruppe gelangt und die Extremen keine Chance bei Wahlen haben und b) um nicht selbst zu dieser Gruppe zu gehören.