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Jahreswechsel - ein offensichtlich zu kurz gekommener Gedanke

  • Tom Drechsel
  • 31. Dez. 2024
  • 2 Min. Lesezeit

Silvester wird oftmals – wohlweislich passend – zum Anlass genommen, über das abgelaufene Jahr nachzudenken. Was ist gut gelaufen, was hat Freude bereitet oder Glück gebracht? Ebenso werden aber auch die schwierigen und vielleicht sogar traurigen Momente in Erinnerung gerufen und Revue passiert. Was lief schlecht, wo hatte man Pech oder gar welche Schicksalsschläge mussten verkraftet werden? Nach dieser Bilanzierung und Gegenüberstellung wird ein Schlussstrich unter das Jahr gezogen und dieses abgehakt - mit Sekt oder Bowle auf das Neue angestoßen.

 

Soweit normal. Sicherlich. Kein neuer Gedanke. Banalitäten und Selbstverständlichkeiten. Allerweltsgedanken, formal wie inhaltlich. Und doch scheint daran etwas auffällig. Gerade weil es so 0-8-15-Sätze sind, fällt dies nicht mehr auf. Aber es ist doch bezeichnend, wie ökonomisiert unsere Sprache und damit auch unsere Gedanken bereits sind. Bilanzieren, Schlussstriche ziehen, abhaken - das sind Tätigkeiten eines Steuerberaters oder Buchhalters, weniger Begriffe für Beschreibungen eines Lebensabschnittes. Und doch werden diese Metaphern gewählt, weil sie so klar sind, weil der (neoliberale) Kapitalismus mittlerweile so in das Blut der westlichen Menschen eingegangen ist.

 

Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen mit deren Erläuterungen sind sicherlich vielsagend für die Finanzstärke eines Unternehmens oder einer Volkswirtschaft - jedoch wenig sinngebend für die Erläuterung eines Menschenjahres. In der vermeintlich abgedroschenen Volksweisheit, dass es nicht darum geht, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern andersherum, den Jahren mehr Leben[1], kommt dies zur eleganten Kürze. Und doch leiert man diesen altersklugen Satz herunter und kümmert sich nicht weiter darum.

 

Wie durchökonomisiert ist denn das westliche Leben? Es geht um Schlankheitsideale, um gesunde, d.h. heute vegane Ernährung und Fitnesszwang. Wer in der Millionenshow die Million erreicht, ist nicht nur der Hero, sondern gilt als Intellektueller schlechthin. Dagegen, wer für ein Fleischfondue, den Kasten Bier und die Zigarette danach und – jetzt wird’s hart – für einen Böller zum Jahreswechsel plädiert, dem wird jegliche Vernunft abgesprochen. Tausendsechshundert Seiten Krieg und Frieden zu lesen, Zeitverschwendung (ökomische Metapher!), Blödsinn – was bringt mir das (schon wieder eine Metapher!)? Wofür es sich zu leben lohnt, fragt Robert Pfaller -die Lektüre lohnt (Metapher)! Und wer war denn nochmals genau dieser Nietzsche? Cooler Typ, möglich, was hat er geschrieben? Keine Ahnung. Warum Latein noch lernen? Sinnlos, spricht kein Mensch mehr! Jacques Lacan nahm mit seinem Seminar „Die Kehrseite der Psychoanalyse“ recht genau diese Entwicklung vorweg. Wir befinden uns im Diskurs der Universität. Wissen ist heute Multiple-Choice mit Showmaster als Schiedsrichter.

 

Um den Jahren tatsächlich mehr Leben zu geben ist es zunächst wichtig, sich den gesellschaftlichen kapitalistischen (Ausbeutungs-)Verhältnissen wieder bewusst zu werden. Sich vergegenwärtigen, wie diese – beispielsweise durch die ökonomischen Metaphern – in uns eingedrungen und habituell verinnerlicht wurden, d. h. insofern nicht mehr auffallen. So wirkt Ideologie -anderes Thema!

 

Appell: Versuchen wir die ökomischen Metaphern durch Poesie zu ersetzen. Dies hat mehr Sinn – und hoffentlich mehr Wirkung – als altbekannte Vorsätze fürs neue Jahr.

 

Lesevorschlag: Erste und letzte Gedichte von Fabjan Hafner.

 

(Disclaimer: Aus Gründen der besseren Leserlichkeit wurde nur die männliche Form gewählt, sämtliche Geschlechter sind mitgemeint, meine Freund_Innen)


[1] Vermutlich stammt dieses Zitat von Alexis Carrel, Nobelpreisträger 1912 für Medizin.

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