
Kinotipp: Amrum
- Tom Drechsel
- 9. Nov.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Nov.
Amrum kurz vor Kriegsende. Der zwölfjährige Nanning kümmert sich um seine aus Hamburg geflohene Familie, die hochschwangere und nazi-regimetreue Mutter, deren Schwester und seine jüngeren Geschwister, da der Vater selbst als Obersturmbandführer in den Kriegsdienst einberufen wurde. Als die Mutter am 30. April vom Tod Adolf Hitlers erfährt, kommt es zur Frühgeburt und sie verfällt nachfolgend in Depression und verweigert das Essen. Einzig ein Weißbrot mit Butter und Honig wünscht sie sich. Nun unternimmt Nanning alles, um diesen Wunsch seiner Mutter zu erfüllen, stellt aber fest, dass dies in den Kriegstagen keine leichte Sache ist.
Kurzinterpretation
Einige Kritiken schreiben über den Film, dass er ein Coming-of-Age-Film sei. Dies ist sicherlich nicht falsch, wird dem Film aber auch nicht ganz gerecht, wenn er nur auf diesen Aspekt reduziert wird. Zentral in Amrum sind für meine Interpretation zwei Momente, einmal die Traumszene in der Nanning seinem Onkel Theo begegnet und er Nanning auf den Vorwurf, dass er am Verhalten seiner Eltern nicht schuld sei und nichts dafürkönne, dieser ihm entgegnet, selbstverständlich nicht für die Taten seiner Eltern verantwortlich sei, aber dennoch damit zu tun habe, da es eben auch seine Geschichte sei. Das zweite Moment ist die Schlussszene. Ein alter, weißer Mann blickt auf das weite, offene Meer, metaphorisch als der Rückblick auf ein langes Leben. Durch diese beiden Momente lässt sich über den Film auch ein Gegenwartsbezug herstellen.
Doch zunächst zurück zu dem Film. Nanning tut wirklich alles für seine Mutter. Es bleibt ihm auch nichts anderes übrig. Der Vater im Krieg, die Geschwister zu klein, er, der einzige Mann im Haus. Aber, so könnte man fragen, vielleicht genießt er dies auch ein wenig, zumindest unbewusst. Zu Beginn des Films fragt er die Mutter, ob denn der Vater nicht bald nach Hause käme, denn der Krieg sei ja bald vorbei. Was meint Nanning mit dieser Frage? Hat er Sehnsucht nach dem Vater? Vermutlich. Gleichzeitig könnte es aber auch eine Angst sein. Der Vater kommt zurück und übernimmt die Rolle, die Nanning zu erfüllen hat. Nanning ist es ja, der der Ernährer ist (er kümmert sich um das Wichtigste im Krieg, Essen zu haben. Nanning organisiert das Weißbrot mit Honig und Butter für seine Mutter, er arbeitet auf dem Feld bei der Bäuerin Tessa Bendixen für Milch oder Butter, er jagt ein Kaninchen, schlachtet es und bringt es zum Essen.) So ist es auch die Angst, die Vaterfunktion zu verlieren. Ödipal hat er sich nicht von der Mutter trennen können und nimmt daher die Rolle des Ehemanns ein. Deutlich wird dies vor allem, als Nanning endlich das Honigbrot seiner Mutter überreichen kann, diese es dann aber aufgrund tiefster Depression gar nicht mehr haben will. Nanning läuft nicht zornig weg, wie man es vielleicht vermuten würde, sondern wirft sich ihr – liebkosend – in den Schoß. Insofern wäre die Rückkehr von Nannings Vater tatsächlich ein Problem. Da er unzertrennlich von seiner Mutter ist, symbolisch also nicht kastriert wurde, kann er daher auch nur ihr nationalsozialistisches Weltbild/Ideologie verinnerlicht haben. Doch während den Mühsalen für die Besorgung des Honigbrotes mit Butter und der Erfüllung des Wunsches seiner Mutter, kommt es nun zu mehreren Irritationen in Nannings Weltbild. Erstens begegnen ihm ausgehungerte und abgemagerte Flüchtlinge aus Polen, fliehend von den herannahenden Russen. Die Erfahrung, was es bedeuten kann, wenn jemanden Wehrkraftzersetzung vorgeworfen wird. Ebenso die Erkenntnis, dass der Opa seines Freundes Herrmann, wie aber auch viele andere Amrumer sich freuen, wenn über das Radio bzw. einen verbotenen Sender vernommen werden kann, dass die Alliierten anrücken und Nazideutschland angreifen. Hinzu kommt die aufgedunsene und augenausgestochene (wieder Ödipus?) Wasserleiche. Besonders aber während der Jagd auf die Robbe, wo Nanning erfährt, dass sein Onkel seine große Liebe durch die Nazis verloren hat, öffnet ihm eine neue Perspektive auf seine bisherige eindimensionale nationalsozialistische Weltsicht, die ihm von seiner Mutter vermittelt wurde. Hier ist es dann auch genau das erste Moment, der Traum, indem Nanning erkennt, dass auch er mit der Geschichte zu tun hat.
Hitler ist tot, die Alliierten gewinnen, die Hakenkreuzfahne verschwindet. Zumindest optisch und äußerlich. Doch wie geht es innerlich mit Nanning weiter? Dies zeigt der Film nur mehr indirekt. Am Ende des Films taucht Nanning als alter, weißer Mann, müde und erschöpft, aber irgendwie auch hoffnungsvoll auf das weite Meer, die seichten Wellen und den Sonnenuntergang blickend, auf. Hier verbindet sich dieses zweite Moment nun mit dem ersten. Was wurde aus Nanning, so kann man sich heute fragen? Hat er sich von seiner Mutter und deren Ideologie lösen können, wurde er zum 68ger, zum Rebell, zum Steinewerfer, zumindest zu einem Kind, dass den Eltern die Frage stellte, was habt ihr getan? Konnte er sich als von seiner Mutter emanzipieren? Oder blieb er vielmehr in ihren Fängen bzw. an ihrem Rockzipfel verhaftet und konnte sich nicht trennen? Verinnerlichte auch er die nationalsozialistische Ideologie wie seine Mutter? Was dachte oder tat Nanning, als sich 1992 Neonazis die Asylunterkunft in Rostock-Lichtenhagen angriffen, wie ging es ihm, als er von den NSU-Attentaten erfuhr etc.? Was und wen würde er heute wählen? Man kann es nicht wissen. Es ist aber auch letztendlich unwichtig was Nanning tat oder dachte, sondern und das macht der Film von Fatih Akin so stark, er stellt die Frage an uns? Wie gehen wir mit der Vergangenheit um, die auch die unsere ist und mit der wir auch zu tun haben? Was lernen wir für die Gegenwart und Zukunft daraus?
Amrum: 2025
Länge: 100 Minuten
Regie: Fatih Akin
Drehbuch: Fatih Akin, Hark Bohm
Jasper Billerbeck: Nanning
u.a.